Wohlklingende Töne

Wohlklingende Töne

von Nadja Müller

erschienen in der Rhein-Neckar Zeitung, 4.1.2014

Sie haben ein paar gute Vorsätze fürs neue Jahr gefasst? Und Klavier spielen lernen gehört dazu?
Dann wollen wir Ihnen unbedingt Mut machen, denn die Aufgabe ist lösbar, wie unsere RNZ Kollegin Nadja Müller  herausfand. Als junge Erwachsene ohne jegliche Kenntnisse setzte sie sich bei einem Wochenendkurs an dieses Instrument – und hatte Schlüsselerlebnisse, mehr noch: Sie entlockte ihm tatsächlich wohlklingende Töne.

Mit dem giftgrünen Luftballon in der musikalischen Früherziehung platzte auch der Traum meiner Eltern von einer Klavier spielenden Tochter. Ich hatte keine Lust, sinnfrei aus dieser Gummihaut Töne herauszuquetschen, und der Gummihaut wurde es irgendwann auch zu viel und kapitulierte. Meine musikalische Laufbahn endete mit einem Knall, bevor sie überhaupt begonnen hatte. In der Mittelstufe zitierte mich dann mein damaliger Musiklehrer an den prächtigen Flügel vor die Klasse. Improvisieren sollte ich. Wollte und konnte ich aber nicht. Nach fünf schrägen, unkohärenten Tönen durfte ich mich wieder setzen – und der Lehrer demonstrierte mit geschmeidigem Tastenanschlag und rotierenden Fingern, wie spontan gewählte Töne zu einer individuellen Melodie fusionieren können. Genau was ich brauchte, um mich in den kommenden Jahren einem solchen schwarz polierten Klangmonstrum nicht mehr zu nähern.

Bis zu jenem Wochenende. An dessen Ende ich auf dem Hocker vor einem Wendl&Lung-FlügelPlatz nahm und dort mit (zugegeben zittrigen) Fingern der linken Hand tatsächlich eine zusammenhängende Bassbegleitung zustande brachte. Am Nachbarflügel klimperte sich mein Mitspieler Arpad durch die Fingerfolge der rechten Hand. Und gemeinsam klang das ganz ordentlich nach der „Serenade“ des Komponisten und Pianisten Jens Schlichting.
Er bietet in seinem Studio in Hirschberg an der Bergstraße, in der Schweiz oder der Toskana Klavierkurse für erwachsene Anfänger an.
Weil ich schon immer das Radio lauter drehe, wenn ich Klaviermusik höre, habe ich mich zum Mitmachen entschlossen.
Manche von uns Teilnehmern versuchen „Traumata“ aus der Kindheit zu überwinden, die deutlich schwerer wiegen als meine eigenen: Marietta etwa hat Angst vor Czernys Etüden und Sandra ein ungutes Gefühl, sobald das Metronom anfängt zu ticken. Arpad dagegen will endlich Klavier spielen dürfen – seine Eltern hatten es nur seiner Schwester erlaubt und ihm verboten.

Unsbeiden schaut Schlichting also auf die Finger beim Abschlussstück, und die anderen lauschen – oder bereiten sich gedanklich auf ihre Auftritte vor. Cornelius Gurlitz’ „Thema mit Variation“ oder Chopins „Mazurka in G-Moll“ setzten so die Schlussakkorde unter drei intensive Tage. Jeder von uns sieben Eleven war im Stande, sich mit einem wohlklingenden Beitrag zu verabschieden.

Diese Fähigkeit fasst eine der Schlüsselerfahrungen des Wochenendes zusammen:
Man braucht nicht jahrelang Tonleitern üben, um einem Klavier harmonische Töne zu entlocken. Dazu ist jeder von uns spontan in der Lage – vorausgesetzt, er bekommt die richtige Unterstützung. „Ihr seid keine Anfänger, denn ihr wurdet  schon musikalisch beeinflusst und habt Melodien im Kopf“, sagt Schlichting noch vor der Vorstellungsrunde.
Wir wissen,welche Musik uns gefällt, was wir harmonisch finden, und wo wir lieber weghören. Und so sitzt jeder am ersten Abend, nachdem wir uns die Bedeutung von Metrum, Takt und Rhythmus erklatscht haben, am Flügel, flankiert von Schlichting am Nachbarinstrument, um zu improvisieren und die Musik, die in uns steckt, rauszulassen.

Auch wenn die Aufgabe ähnlich klingt: Mit meiner Schulzeitepisode hat das nichts zu tun. Denn der erfahrene Pianist am anderen Flügel baut um meine vereinzelt angeschlagenen Töne und Tonreihen ein solches Klanggerüst, dass das Zusammenspiel als Hintergrundmusik in einer Bar durchgehen könnte.
„Es gibt keine falschen Töne, nur überraschende,“ hatte Schlichting uns noch Mut gemacht. Und so betrachte ich die Geräusche, die meine Finger erzeugen, ziemlich wertfrei, kümmere mich nicht um Harmonie, sondern experimentiere mit Tempi und Wiederholungen (Ostinati in der Fachsprache). Es bleibt nicht die einzige Improvisationsrunde an diesem Wochenende – und wir staunen immer wieder über die Variationsbreiten dieser Konversationen: Mal flüstern die Töne wie bei einem gedämpften Gespräch zwischen den Flügeln, mal hauen Schlichting und sein Partner aus unseren Reihen so knallend in die Tasten, dass der Boden unter den Fußsohlen vibriert.

Natürlich haben wir nicht als ausgebildete Konzertpianisten den Kurs verlassen. Und natürlich kommt man am Üben nicht vorbei, wenn man flüssig spielen will. So viel Wert Schlichting dem Gefühl und dem Erspüren der Musik beimisst:
Auch um die Technik kommen wir nicht herum. Weil Tasten finden, Noten lesen, Takt und Rhythmus und Lautstärke halten am Anfang gleichzeitig einfach zu viel ist, machen wir eins nach dem anderen. Erarbeiten uns mit Bildern  Referenznoten im Liniensystem, erfahren, dass die räumliche Orientierung stark mit dem Gehör verbunden ist und wir Noten deshalb auch blind finden können und lernen unsere Abschlussstücke schrittweise über Fingerkombinationen.

Es gibt viele Wege zum Klavierspiel, und Schlichting kennt sie alle. Sein Ziel ist es, für jeden von uns das rechte Maß zu finden, und die Faszination fürs Klavier erhalten. Die kann unterwegs schon mal verloren gehen. „Musik ist permanenter Zeitdruck“, sagt er. Schließlich müssen die Tasten im richtigen Moment angeschlagen werden. Doch er weiß Rat, wenn sich Finger und Hirn mal wieder verknotet haben: „Koordinationsprobleme sind immer auch Tempoprobleme.“

Ich reduziere also die Geschwindigkeit der Übung so stark, bis ich meine Finger wieder sortieren und koordinieren kann.
Gewöhne mich an das Gefühl und steigere danach das Tempo wieder. Man muss sich auch beim Klavierspiel nicht ständig am Limit bewegen, sondern darf sich wohlfühlen dabei, ist eine weitere Lektion dieses Wochenendes. Ich staune, wie viel Lebensweisheit mit dem Erlernen von diesem Instrument verbunden sein kann. Und freue mich, dass man dafür nicht unbedingt ein Kind sein muss. Für mich klingt dieser Ansatz so viel besser als Quietschgeräusche auf grünen Ballons. Und meine Eltern müssen mich zum Klavierspielen nicht mehr motivieren – das will ich jetzt aus eigenem Antrieb heraus.